Fast weg, aber immer noch da
FTD ist keine Abkürzung für eine neue Diät. FTD lautet die Abkürzung für „Fronto-temporale-Demenz“. Und nach den sehr spärlichen Ergebnissen aus der medizinischen Forschung und eigener Beobachtung könnte man auch sagen, dass FTD die sehr bösartige kleine Schwester der Alzheimer-Demenz ist.
Klein, weil die Anzahl der diagnostizierten Menschen deutlich geringer ist als die inzwischen stattlich angewachsene Gemeinde der Alzheimer-Patienten. Laut den wenigen medizinischen Erkenntnissen ist FTD dagegen wohl eine sehr seltene Form der Demenz. Jedoch wird gemunkelt, dass die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich höher ist. Da draußen laufen einige Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten herum, die aber bisher nicht dieser Erkrankung zugeordnet wurden. Wie auch? Die ersten Symptome stellen sich so unterschiedlich, so wenig greifbar und kaum mit Worten zu beschreiben dar, dass es oft Jahre dauert, bis irgendjemand auf diese hölzernumständlich klingende Diagnose „Fronto-Temporale-Demenz“ kommt. Kurze Erklärung: Es ist eine Krankheit, bei der der Abbau von Nervenzellen zunächst im Stirn- und Schläfenbereich (Fronto-Temporal-Lappen) des Gehirns stattfindet. Von hier aus werden u. a. Emotionen und Sozialverhalten kontrolliert.

Meine Mutter hat diese Erkrankung, und wir wissen inzwischen seit kurzer Zeit, dass sie nicht – wie von uns lange angenommen – vor ungefähr zehn Jahren langsam zur hemmungslosen Soziopathin mit schlechten Tischmanieren mutiert ist. Wir wissen jetzt, dass sie krank ist. Es ist hoffnungslos, es gibt bisher weltweit keine Therapie. Neben Entsetzen über diese Erkrankung fühlen wir als ihre Angehörigen tatsächlich auch ein bisschen Erleichterung. Endlich haben wir für diese völlige Zerstörung ihrer Persönlichkeit einen Namen. Ihre Aggressivität, die Taktlosigkeit, ihre Maßlosigkeit beim Essen und Rauchen, die völlige Abwesenheit von Empathie, die Teilnahmslosigkeit und Hemmungslosigkeit – mit all diesen Eigenschaften quält sie uns jetzt seit Jahren. Anfangs ärgerten wir uns. Im Verlauf steigerte sich unsere Ablehnung in Abscheu, Ekel und Verachtung. Und plötzlich kommt so eine Diagnose und stellt alles auf den Kopf. Was haben wir versäumt? Hätten wir helfen können? Warum sind wir nicht früher daraufgekommen? Wir haben ihr unrecht getan, und das löst wieder neue negative Gefühle aus, vor allem ein schlechtes Gewissen.
Im Vergleich zur Alzheimer-Demenz stehen zunächst nicht die typische Vergesslichkeit sowie die räumliche und zeitliche Orientierungslosigkeit im Vordergrund. Das kommt bei FTD erst ganz am Ende des Krankheitsverlaufs dazu. Bei Menschen mit FTD treten Symptome auf wie enthemmtes Verhalten, häufig auch sexualisiert, Aggression, infantiles Verhalten, Maßlosigkeit beim Essen von Süßigkeiten und Trinken von Alkohol, Unkonzentriertheit, Wortfindungsstörungen, Entwickeln von merkwürdigen Ritualen, Antriebslosigkeit bis hin zur Apathie, Vernachlässigen der Körperpflege, Inkontinenz, Schluckstörungen. Kurz gesagt – sie sind nicht mehr „salonfähig“.
Immer wieder kommen wir an unsere Grenzen, wenn meine Mutter wie neulich im Restaurant erst die Kellner mit rassistischen Äußerungen anpöbelt, am Nachbartisch mit einem gezielten Handgriff zwei Weingläser vom Tisch schnappt, in einem Zug hinunterkippt, anschließend in die Restaurantküche im Hopsa-Lauf wie ein Kind hüpft und dort versucht, mit den Fingern am Koch vorbei in die Töpfe zu langen. Ganz großes Kino spielt sich da ab. Wir erleben, wie Menschen vor Peinlichkeit erstarren, jüngere Leute sofort zum Handy greifen und filmen. Wir selbst möchten uns gern unter dem Tisch verstecken und wissen nicht, ob wir lachen oder weinen sollen. Wir haben beides getan.
Bei allem schwachsinnigen Verhalten ist sie aber sehr gut in der Lage, sich gegen alles zu wehren. Das heißt, sie akzeptiert keinerlei Hilfe und Unterstützung von außen. An ein Pflegeheim ist nicht zu denken. Sie würde dort aufstehen und mit dem Bus nach Hause fahren – sie ist ja gut orientiert. Nicht einmal ins Haus lassen würde sie eine Pflegekraft. Warum auch? Sie hat überhaupt keine Krankheitseinsicht, ihr fehlt nichts, sie versteht das Problem nicht. Auch das macht diese Erkrankung aus. Sie wäscht sich nur noch höchstselten, lässt alles unter sich gehen, isst und trinkt nur mehr zufällig, erbricht es meist wieder, liegt den ganzen Tag im Sessel und starrt in den Fernseher. Sie verfällt vor unseren Augen, und wir sind absolut hilflos, können sie zu nichts mehr bewegen. Was sollen wir tun? Mit Gewalt über sie herfallen, sie knebeln und fesseln und unter die Dusche stellen? Mit Medikamenten ruhigstellen und sie im Schlaf waschen? Funktioniert alles nicht in der Praxis. Uns geht die Luft aus, wir wissen nicht weiter.
Es gibt ein paar wenige Selbsthilfegruppen. Dort findet man Trost. Aber eben auch die Bestätigung, dass es wirklich überhaupt keinen Plan B gibt. Alle wurschteln sich irgendwie durch den Alltag. Hoffnung auf Besserung gibt es nicht.
Ist FTD erblich? Auch zu dieser Frage gibt es bisher keine gesicherten Erkenntnisse. Seit kurzer Zeit fühle ich mich unkonzentriert, fahrig, nervös, ungeduldig. Mein Mann versucht mich zu beruhigen. Es wäre Blödsinn, ich sei schon immer so gewesen. Neulich habe ich nach vielen Jahren eine Bekannte meiner Mutter getroffen. „Du siehst deiner Mutter so ähnlich – wie aus dem Gesicht geschnitten“, begrüßte sie mich. Weinend bin ich nach Hause gelaufen. Ich habe Angst, nicht nur ihre Gesichtszüge geerbt zu haben.
Vielen Dank für den wertvollen Post! Toller Blog.