Irrgarten der Pflegeplatzsuche

Platz im Pflegeheim zu vergeben an junge, dynamische, kerngesunde Mittneunzigerin, gesichertes Einkommen und Führerschein Klasse B Voraussetzung. Familienangehörige der Berufsgruppe Pflegekräfte erwünscht.

Es ist so weit. Ich gehöre jetzt offiziell der Sandwich-Generation an. Das heißt, die eigenen Kinder sind noch nicht durch die Ausbildung und auch noch fern der Eigenständigkeit. Gleichzeitig tritt die Pflegebedürftigkeit der Eltern ein. Und wir mittendrin. Das kostet Kraft, Nerven, Zeit und Geld. Eine anstrengende Zeit, die man nur mit viel Schokolade, Wein und reichlich Humor übersteht.

Meine Mutter ist seit Jahren an einer seltenen Form der Demenz erkrankt – einer frontotemporalen Demenz, kurz „FTD“ genannt. Die Veränderungen unterscheiden sich zum Krankheitsbild des an Alzheimer leidenden Menschen. Die Vergesslichkeit steht nicht so sehr im Vordergrund, sondern eine Verschlechterung des Sozialverhaltens und der Verlust der Sprache sind bei meiner Mutter das Hauptproblem. Die Krankheit war inzwischen sehr weit fortgeschritten und sie brauchte einen Pflegeplatz in einer Einrichtung für Patienten mit Demenz.

Also machten wir uns auf die Suche. Sehr schnell wurde klar, dass die Situation rund um das Thema Alten- und Krankenpflege in Deutschland in etwa so entspannt ist wie der Immobilienmarkt in München, Hamburg und Köln. Es gibt schlicht einfach nicht genügend Plätze, Mitarbeiter und Unterstützung. Ich erzähle nichts Neues mit den Schlagwörtern „Altersstruktur und demografischer Wandel“. Ich konnte es schon nicht mehr hören. Nun bin ich selbst betroffen und wie immer befasst man sich dann erst mit diesen Themen. Das ist menschlich. Aber doof. Denn statt sich Sorgen um den passenden Kindergartenplatz, die richtige Grundschule, das internationale Gymnasium, die Elite-Universität mit garantiertem Abschluss für unsere Kinder schon bei der Geburt zu suchen, sollten wir uns lieber mit spätestens dreißig Jahren einen Heimplatz kaufen. Und für unsere Kinder am besten sofort auch gleich mit.

Ich erinnere mich, dass die Kindergartenplatzsuche für meine Kinder damals ähnlich schwer war. Es gab einfach nicht genügend Einrichtungen. Und schon gar keine Tagesbetreuungen in ausreichender Anzahl. Meine Tochter war fast fünf Jahre alt, als sie endlich einen Platz im Kindergarten bekam – zwischen neun und zwölf Uhr!

„Dafür habe ich damals in unserem Ort fast meine Seele verkaufen müssen.“

Dafür habe ich damals in unserem Ort fast meine Seele verkaufen müssen. Inzwischen hat sich auf diesem Sektor in unserem Land ja doch einiges verbessert.

Ich zog also aus, um einen Platz in einer Einrichtung für Menschen mit Demenz für meine Mutter zu bekommen. Gleich vorweggesagt, wenn Sie nicht beste Kontakte zu einem Arzt haben, der Sie mit allen nötigen Bescheinigungen zeitnah versorgt, können Sie es gleich vergessen.

Sollten Sie nicht absolut sattelfest sein auf dem gnadenlosen Ritt durch den gesamten Verwaltungsapparat unserer Krankenkassen, haben Sie keine Chance.

Die Anzahl und Vielfältigkeit sonstiger geforderter Unterlagen wie sämtliche Nachweise über Vermögen oder Unvermögen der gesamten Familie, Grundbesitz, Besitz über Fahrzeuge, über Konten in der Schweiz und Besitz der geistigen Kräfte, Aufzeichnungen über das Leben und Wirken von mindestens drei Generationen zurück wird nur von Immobilienmaklern in Köln bei Wohnungssuche für Studenten übertroffen. Da müssen Sie noch ganz andere Dinge bringen, nennen wir es mal „Gefälligkeiten“.

Nachdem ich einen großen Aktenordner mit allen gewünschten Unterlagen samt Steuererklärungen zusammengestellt hatte, machte ich mich auf den Weg. Einen sehr steinigen Weg. Ich hatte mir eine Liste mit Adressen erstellt und Termine vereinbart. Warum man nicht am Telefon direkt sagen kann, dass es derzeit keine Aufnahmemöglichkeit wegen Überfüllung gibt und stattdessen die frohe Botschaft lieber persönlich sagt, bleibt ein Geheimnis. Tage habe ich damit verbracht, auf einem Flur stehend zu warten und dann zu hören, dass ich die Mutter gern auf eine Warteliste setzen kann.

„Wie lange das ungefähr dauern kann? Das können wir nicht sagen, manchmal geht so etwas ja schnell. …“

„Wie lange das ungefähr dauern kann? Das können wir nicht sagen, manchmal geht so etwas ja schnell. Aber im Durchschnitt liegen wir bei zwölf Monaten.“

Da ein Jahr Wartezeit in unserem Fall keine Option war, ging die Suche weiter. In einem „Demenzzentrum“, also einer spezialisierten Einrichtung, hatte ich Glück. Dachte ich. Ja, es gäbe jetzt grade einen freien Platz. Erleichtert zog ich den heiligen Gral – meinen Aktenordner – und präsentierte ihn stolz. Ein Blick der Pflegeleitung in die Unterlagen und sie klappte den Deckel wieder zu.

„Das sind ja alles ärztliche Bescheinigungen eines Internisten. Das gilt nicht. Das muss alles vom Neurologen sein.“ Sie war empört.

Ich protestierte: „Da ist auch die Bescheinigung vom Neurologen mit Brief vom Radiologen. Alles frisch!“

„Ja, aber nur eine Bescheinigung vom Neurologen und fünf vom Internisten. Das gilt nicht!“, beharrte die Dame.

Ich war raus, ich konnte dieser Logik nicht mehr folgen. Auch mein Argument, dass es doch auf den Inhalt der Bescheinigungen ankäme und nicht auf die Anzahl der Blätter, zog nicht. Sie blieb hart. „Wenn Sie mir bis heute Nachmittag weitere Bescheinigungen vom Neurologen bringen, dann schaue ich mir das nochmal an“, lockte sie mich. Der Neurologe war für mich hundert Kilometer weit weg und ich rechnete hin und zurück drei Stunden Autofahrt plus Überfall in der neurologischen Praxis inklusive Androhung von Gewalt zur Erzwingung eines weiteren neurologischen Gutachtens. Das ist nie zu schaffen.

„Einverstanden, ich bin heute Nachmittag wieder zurück. Halten Sie bitte den Platz frei.“

Ich werde hier nicht schriftlich bestätigen, welche schweren Verkehrsdelikte ich in den nächsten Stunden begangen habe. Auch werde ich mit ins Grab nehmen, was ich in dieser neurologischen Praxis für einen peinlichen Auftritt hingelegt habe. Nur so viel, die wollten mich überreden, doch einmal selbst zur Untersuchung zu kommen.

Wie auch immer, am Nachmittag rannte ich in das Demenzzentrum und völlig fertig legte ich alles Gewünschte vor.

Diagnose: Frontotemporale Demenz

„Fenterale Demenz?“, las die Dame laut und falsch vor.

„Nein! Frontotemporale Demenz heißt es richtig.“, verbesserte ich. „Das haben Sie ja heute Morgen schon gelesen. Das steht auch auf allen anderen Berichten des Neurologen und Internisten.“ Ich war so geduldig.

„Tja, dann tut mir das leid, aber damit können wir Ihre Mutter nicht nehmen. Die mit fenterale Demenz sind immer so aggro. Wir nehmen nur die mit Alzheimer, die sind meistens lieb.“

Das war ein Zitat und wenn Sie das nicht glauben, schicke ich Ihnen gern die Adresse. Probieren Sie es aus. Meine Mutter ist einen Meter fünfzig klein und wiegt achtundvierzig Kilogramm. Selbst wenn sie „aggro“ wäre, was sie nicht ist, dann hätte sie Kräfte wie ein Kanarienvogel.

Wir kamen nicht zusammen und die Suche ging weiter. Ich lernte sehr viel. Anfängerfehler sind beispielsweise, auf Fragen nach Zustand und Alltagsverhalten der Pflegebedürftigen mit der Wahrheit zu antworten. Tun Sie das nicht!

„Läuft Ihre Mutter auch mal weg?“, wurde ich befragt.

„Ja, wenn die Türen offenstehen, kann ich das nicht ausschließen.“, antwortete ich beim ersten Mal noch ehrlich.

„Dann können wir sie nicht nehmen. Für eine geschlossene Abteilung brauchen Sie einen Gerichtsbeschluss. Und da es in Deutschland kaum bis gar nicht möglich ist, so eine gerichtliche Verfügung für Patienten mit einer Demenz zu bekommen, können wir nur Menschen nehmen, die nicht zur Tür rauslaufen. Wir dürfen niemanden einsperren.“

Gerichtsbeschluss nicht möglich? Das stachelte nur meinen Ehrgeiz an. Das wollen wir doch mal sehen. Ich habe alles beantragt und verschone Sie mit Einzelheiten, was man dazu alles an Unterlagen und schriftlichen Anträgen bringen muss. Ich fasse mich kurz. Ein freundlicher Herr vom Amtsgericht rief mich nach einigen Wochen an.

„Ihr Antrag wird abgelehnt. So wie neunundneunzig Prozent aller Anträge. …“

„Ihr Antrag wird abgelehnt. So wie neunundneunzig Prozent aller Anträge. Erst wenn sich jemand nachweislich vor Augenzeugen und möglichst Mitarbeitern eines Pflegeheimes sein eigenes Leben oder das der Mitbewohner akut gefährdet hat, gibt es eine Möglichkeit zur Unterbringung in geschlossenen Abteilungen.“ So klärte er mich auf.

„Das heißt, erst wenn meine Mutter zur Tür rausspaziert, über die Straße läuft und vom Auto überfahren wird, darf sie in eine Abteilung, in der die Türen gesichert sind?“, hakte ich nach.

„Ja, so ist das.“

Damit war das Gespräch beendet. Die Gesetze sind so. Menschen mit einer Demenz sind meist orientierungslos. Da macht eine verschlossene Außentür Sinn. Die Anzahl von Alten- und Krankenpflegern, die sich ein Heim leisten kann, ist nicht ausreichend für das Arbeitsaufkommen, das eine gute Betreuung fordert. Um das zu erkennen, reichen zehn Minuten Wartezeit auf einem Flur aus. Da passt quasi der Personalschlüssel nicht in die besagte Tür.

Bei der nächsten Adresse war ich besser vorbereitet. Dachte ich.

„Meine Mutter hat keine Weglauf-Tendenz!“, erklärte ich stolz.

Vorwurfsvoll kam zurück: „Hinlauf-Tendenz! Wir sprechen doch bitte von Hinlaufen. Menschen mit Alzheimer wollen nicht Weglaufen. Das klingt so negativ. Sie möchten nur irgendwo hinlaufen. Das ist ein Unterschied!“, belehrte sie mich.

Da beschäftigte sich jemand mit dem Krankheitsbild, dachte ich noch, das ist gut. Auch wenn es keinen Unterschied macht, ob die Mutter vom Auto überfahren wird, weil sie zum gegenüberliegenden Italiener hinlaufen wollte oder vor dem Kantinenessen im Heim weglaufen wollte.

„Haben Sie schon ein Beerdigungsinstitut ausgesucht?“

Die zweite Frage an mich folgte: „Haben Sie schon ein Beerdigungsinstitut ausgesucht?“

Das war neu. Das hatte mich bisher noch niemand gefragt. Nein, hatten wir noch nicht. Wir haben bisher nicht mal eine Pflegeeinrichtung ausgesucht. Lange Rede, kurzer Sinn, diese Einrichtung wurde es dann auch nicht. Trotz meiner Bereitwilligkeit, meinen Sprachgebrauch hinsichtlich richtiger Wortwahl zu verbessern.

Ich hatte trotz einiger Ausfälle viele gute Gespräche mit Mitarbeitern von Pflegeeinrichtungen und insgesamt muss ich sagen, dass sie für mich hier in diesem Land die wahren Helden sind. Für ganz kleinen Lohn wird dort Schwerstarbeit geleistet. Man kann nur dringend auf große Verbesserungen der Arbeitsbedingungen hoffen. Auch im höchst eigenen Interesse. Denn irgendwann klopfen viele von uns eines nicht ganz fernen Tages dort an.

Die schrägste Begegnung hatte ich in einer kirchlichen Einrichtung. Ich war inzwischen gewiefte Lügnerin, was das Lobpreisen meiner Mutter anging. Ich hatte für sie ein Hochglanz-Exposé angelegt mit Eigenschaften wie „topfit, eigenständig, wenig pflegebedürftig, keine Hinlauftendenzen, reich, aus gutem Kinderhaus, keine eigenen Musikinstrumente, keine Haustiere und gute Glutamatverträglichkeit.“

„Gehört Ihre Mutter einer Religion an?“, wurde ich am Telefon gefragt.

„Natürlich! Sie ist katholisch getauft, hat sich immer an mindestens acht Gebote gehalten und viele Jahre im Chor gesungen.“

Stille in der Leitung. Was hatte ich jetzt schon wieder Falsches gesagt?

„Katholisch nützt nichts. Wir nehmen nur Neuapostolen, freie Ökumenen, Methodisten und Baptisten.“

„Was ist mit Nudisten? Sie hat sich immer gern nackig ausgezogen. Oder Scientologen? Meine Mutter liebt Filme mit Tom Cruise. Wenn Sie möchten, dann ziehen wir ihr einen karierten Rock und eine weiße Bluse an und drücken ihr den Wachturm in die Hand!“

„Im Namen des Herrn“ – ein Nachname wurde mir leider nicht genannt – so wurde mir am Telefon geantwortet, sei keiner meiner konstruktiven Vorschläge im Gesamtkonzept des christlichen Hauses umsetzbar.